„Börsenjahr 2022 – Jahr des Richtungswechsels für die Kapitalmärkte“
Frankfurt, den 16. Mai 2022 – An den Kapitalmärkten war es bislang ein zugleich anspruchsvolles und schwankungsstarkes Jahr 2022. Wie geht es in den nächsten Monaten weiter? Und worauf müssen Anlegerinnen und Anleger sich einstellen? Wir haben mit Andreas Köster, Segmentleiter Portfoliomanagement und Managing Director für den Bereich Multi Asset, über die Investmentperspektiven gesprochen.
Andreas Köster leitet seit September 2021 als Chief Investment Officer das rund 300 Mitarbeiter starke Portfoliomanagement von Union Investment. In seiner Funktion verantwortet er die Strategie für ein Anlagevolumen von rund 306 Mrd. Euro. Darüber hinaus ist er seit März 2022 Mitglied der Geschäftsführung der Union Investment Privatfonds GmbH.
Herr Köster, mit der Corona-Pandemie, der Zinswende und dem Ukraine-Krieg haben gleich drei epochale Treiber das Börsenjahr bislang geprägt. Wie ordnen Sie die Entwicklung ein?
Wir erleben eine Zeitenwende – auch an den Kapitalmärkten. Nach guten Jahren mit geringer Schwankungsbreite und ordentlichen Zuwächsen bei Risikoanlagen markiert 2022 einen Trendwechsel. Die Corona-Pandemie hat bestehende Trends beschleunigt, andere abgebrochen und wieder andere ausgelöst. Zudem legt die Inflation kräftig zu und mit ihr steigen auch die Zinsen. Und schließlich herrscht seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine Krieg in Europa, was eine Neubewertung politischer Risiken notwendig macht – auch und gerade für Anlegerinnen und Anleger.
Worauf müssen sich Investoren einstellen?
Dieser dreifache Wechsel bei wichtigen Einflussfaktoren – also Corona, Inflation und Krieg in Europa – führt zu einer Neukalibrierung des Kapitalmarktumfeldes. Das alte „Vor-Corona-Gleichgewicht“ mit niedriger Teuerung, ultralockerer Geldpolitik und geringer (geopolitischer) Risikoprämie trägt nicht mehr. Wir müssen alle umdenken und uns auf eine andere Börsenwelt einstellen.
Lassen sich denn schon die Umrisse dieser „anderen Börsenwelt“ erkennen?
Die Entwicklung ist im Fluss, das macht Vorhersagen natürlich besonders schwierig. Drei wichtige Grundlinien zeichnen sich aber bereits ab. Erstens ist der „Großmachtwettbewerb“ zurück auf der politischen Bühne. Für uns Europäer ist der Krieg im Osten des Kontinents das sichtbarste Zeichen dafür. Aber auch in Asien kommt es vermehrt zu Spannungen zwischen den USA und China. Diese Art von Konflikt muss nicht erst militärisch eskalieren, um börsenrelevant zu sein. Schon die Politisierung des Kapitalmarkts, wie in ihn die Pekinger Führung zeitweise betrieben hat, kann Schockwellen um den Globus senden – aber im Umkehrschluss auch die Kurse stützen.
Zweitens?
Zweitens befinden sich die Notenbanken im Dilemma: Die auch durch Krieg und Pandemieeffekte gestiegene Inflation spricht für einen geldpolitisch strafferen, das geringere Wachstum für einen weiter stützenden Kurs. In diesem Spannungsfeld haben sich die Notenbanken dazu entschieden, die geldpolitische Normalisierung einzuleiten. Ob das so bleibt, ist davon abhängig, ob eine Rezession vermieden und die Inflation in Zaum gehalten wird. Wir glauben, dass dieser Balanceakt gelingen kann. Für die Märkte aber dürfte die Debatte um mögliche „Politikfehler“ der Notenbanken noch weiter für Unruhe sorgen.
Der Weg nach vorne dürfte nach den guten Vorjahren holpriger werden. Trotzdem gibt es nach wie vor attraktive Investmentmöglichkeiten, und die gilt es mehr denn je zu nutzen.
Und was verbirgt sich hinter Ihrem dritten Punkt?
Drittens sind durch die Corona-Krise die Trends Digitalisierung, Deglobalisierung und Dekarbonisierung beschleunigt worden. Es besteht ein dringender Nachholbedarf bei Investitionen. Lieferketten müssen neu ausgerichtet werden, um Abhängigkeiten vom Ausland zu verringern, Infrastruktur muss modernisiert sowie generell die Widerstandskraft der Wirtschaft gegen äußere Schocks erhöht werden. Die durch den Klimawandel angetriebenen Bemühungen zu treibhausgasärmerer Energieerzeugung werden durch die stark gestiegenen Preise für fossile Energieträger noch verstärkt.
Was bedeuten diese Trends für die Kapitalmärkte?
Die Übergangsphase zu einem neuen Post-Corona-Gleichgewicht dürfte von einer Zinswende und strukturell höherer Inflation geprägt sein. Damit bieten Rentenanlagen anders als früher weniger Schutz gegen Kursschwankungen auf der Aktienseite. Mehr noch: Die steigende Teuerung lässt den Ertrag von Aktien-Renten-Portfolios sinken, und zwar nominal wie real. Zugleich erhöht sich das Risiko, weil sowohl bei Aktien- als auch bei Rentenanlagen die Schwankungsanfälligkeit zu-, die Korrelation zueinander aber abnimmt. Das sind schon recht herausfordernde Bedingungen für die Geldanlage.
Wie können Anlegerinnen und Anleger darauf reagieren?
Das Wichtigste ist, den Kopf nicht in den Sand zu stecken. Eine aktive, ausgewogene und an den Ertragszielen ausgerichtete Anlagestrategie ist wichtiger denn je, denn sonst können die realen Vermögensverluste in Zeiten hoher Inflation sehr schnell sehr schmerzhaft werden. Wichtig ist außerdem, realistische Erwartungen an die Ertragsperspektiven zu haben: Der Weg nach vorne dürfte nach den guten Vorjahren holpriger werden. Trotzdem gibt es nach wie vor attraktive Investmentmöglichkeiten, und die gilt es mehr denn je zu nutzen.
Wo sehen Sie diese Chancen?
Mehr Aktivität ist sicherlich ein Schlüssel zum Anlageerfolg. Eine aktive Anlagestrategie kann Chancen nutzen, die sich bieten, etwa durch eine ausgeglichenere Verteilung von Wachstums- und Substanzaktien oder eine breitere Streuung der Anlagen. Beimischungen anderer Assetklassen wie Rohstoffe und Anpassungen innerhalb von Aktien und Renten können das Portfolio ebenfalls widerstandsfähiger machen. Infrastrukturaktien sind ein Beispiel für solche Anpassungen, eine stärkere Gewichtung von inflationsindexierten Anleihen ein weiteres. Moderne Multi-Asset-Lösungen können dabei ein sehr effizienter Weg sein, um diese Chancen für den Vermögensaufbau oder -erhalt zu nutzen.
Ihre Erwartung an die kommenden Börsenmonate in zwei Sätzen?
Es bleibt schwierig, aber die Chancen überwiegen nach wie vor. Insbesondere in der zweiten Jahreshälfte sollten sich die Perspektiven wieder aufhellen.